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4. 4. Konsequenzen für die Stottertherapie

Eine Theorie sollte die beobachtbaren Fakten erklären, sie sollte aber auch überprüfbare Voraussagen erlauben, anhand derer die Theorie getestet werden kann. Die wichtigste Voraussage, die wir von einer Theorie erwarten, die die Ursachen eines Defektes erklärt, ist natürlich eine Voraussage darüber, wie der Defekt am besten zu beheben ist. Für eine Theorie des Stotterns heißt das: Sie sollte eine Voraussage darüber erlauben, welche Therapiemethode am wirksamsten ist. Wenn die auf den vorangegangenen Seiten beschriebene Aufmerksamkeitsverteilungs-Theorie des Stotterns richtig ist, dann sollte Stottern sich durch folgende Maßnahmen erfolgreich behandeln lassen:

Verbesserung der auditiven und der propriozeptiven Rückmeldung
(1) Hören auf die eigene Rede, besonders an den Enden der Wörter  (mehr...) 
(2) Sprechen mit klangvoller Stimme; bewusste Klangvorstellung  (mehr...) 
(3) bewusstes Wahrnehmen der Enden der Einatemphasen  (mehr...) 
 
Vermeidung von allem, was die Aufmerksamkeit von der Rückmeldung ablenkt
(1) Verzicht auf alle Bemühung, Stottern vorherzusehen und zu modifizieren
(2) Verzicht auf willentliche motorische Steuerung des Sprechens, z.B. durch weichen Stimmeinsatz oder durch künstliches Dehnen der Silben
 
Verminderung der Anforderungen an die Sprechplanung
(1) Pausen an geeigneten Stellen im Satz und zwischen den Sätzen (fraktioniertes Sprechen)  (mehr...) 
(2) Verzicht auf alle Bemühung, Wörter zu substituieren oder Sätze innerlich umzuformulieren.
 

Die aufgelisteten Methoden sind nicht neu – im Gegenteil. Sie werden seit vielen Jahren mit Erfolg in der Therapie des Stotterns eingesetzt. Das klangvolle Sprechen und die Bildung von Klangvorstelleungen sowie das fraktionierte Sprechen (Sprechen in Abschnitten) geht zurück auf Robert Muirden [1]. Klangvolles Sprechen („Tönen“) und das Hören auf die eigene Stimme sind Kernelemente der „Hausdörfer-Methode“, die von Oskar Hausdörfer [2] begründet wurde, und die seit Jahren von Therapeuten in Deutschland und den Niederlanden angewandt wird. Sowohl Muirden als auch Hausdörfer waren selbst Stotterer, die mit Hilfe der genannten Methoden ihre Sprechstörung überwanden. Beider Erfahrungen haben im deutschsprachigen Raum Eingang in die „Naturmethode“ gefunden, die auf Seminaren im Rahmen der Stotterer-Selbsthilfe gelehrt wird. Das Sprechen in Abschnitten (auch als fraktioniertes Sprechen bezeichnet) ist impliziter Bestandteil ansonsten sehr verschiedener Therapieprogramme und dürfte nicht wenig zu deren Wirkung beitragen. Beispielsweise wird es in der Kasseler Stottertherapie [3], im McGuire-Stotterprogramm [4] und in der Koordinierten Stotterkontrolle nach Jacobsen [5] eingesetzt. In den USA wurde es unter dem Begriff „Pausing“ von Peter Reitzes [6] propagiert und hat dort weite Verbreitung in der Stottertherapie gefunden.

All dies bedeutet nicht, dass andere Therapiemethoden, wie etwa Fluency-Shaping oder Stottermodifikation, nicht helfen. Die Wirksamkeit dieser Methoden ist zum Teil sogar in empirischen Studien nachgewiesen [7]. Im Falle der Fluency-Shaping-Therapie fällt allerdings auf, dass nach der Therapie die Aktivität in den auditiven Arealen der Großhirnrinde nachhaltig verstärkt ist [8], obwohl mit dieser Therapiemethode keine Beeinflussung der auditiven Verarbeitung angestrebt wird. Wie ist dieser Effekt zu erklären? Einerseits wird durch das Dehnen der Silben der zeitliche Anteil der klingenden Laute (der Vokale und stimmhaften Konsonanten) erhöht, was sich für den Sprecher ungewohnt anhört und dadurch dessen Aufmerksamkeit auf die auditive Rückmeldung lenkt, was aber auch an sich die Stimmwahrnehmung nachhaltig intensivieren dürfte  (mehr...) . Außerdem besteht die Notwendigkeit, die korrekte Anwendung der Sprechtechnik im Alltag über das Hören zu kontrollieren. Hinzu kommt, dass der betont weiche Stimmeinsatz bei Fluency-Shaping-Techniken eine bewusste Kontrolle der Ausatmung erfordert, wodurch die Aufmerksamkeit auf die Atmung gelenkt und auch hier Rückmeldungsdefizite vermieden werden. Vielleicht ist es vor allem die Veränderung der Aufmerksamkeitsverteilung beim Sprechen und nicht so sehr die veränderte Sprechweise selbst, was die Verminderung des Stotterns bewirkt.

Zudem wird jede Therapie, der es gelingt, die Zuversicht der Betroffenen zu stärken und den Stress beim Sprechen zu reduzieren, zu einer Verbesserung führen, denn die Erwartung der Symptome und der damit verbundene Stress tragen beim chronischen Stottern stark zur Fehlverteilung der Aufmerksamkeit bei (siehe Abschnitt 3. 3.)  (mehr...) . Die Stressreduktion wird beispielsweise erreicht durch Desensibilisierung mit dem Ziel der Akzeptanz des eigenen Stotterns und durch die Stottermodifikation mit dem Ziel, leichter, entspannter und dadurch unauffälliger zu stottern. Allerdings kann durch solche Maßnahmen nur jener Teil der Symptomatik beseitigt werden, der tatsächlich mit Stress, Sprechangst usw. zusammenhängt. Da dies jedoch nicht die eigentlichen Ursachen des Stotterns sein können (denn der Ausbruch des kindlichen Stotterns lässt sich damit nicht erklären), bleibt ein Rest, der dann manchmal als nicht behebbares "Kernstottern" bezeichnet wird. Doch auch dieser Rest lässt sich beseitigen, wenn die auditive Rückmeldung des Sprechens hinreichend verbessert wird – das kann ich sowohl aufgrund meiner eigenen Erfahrung als Stotterer sagen als auch aufgrund von Beobachtungen anderer Betroffener, die mit Hilfe der oben aufgelisteten Maßnahmen ihre Sprechstörung überwunden haben.

Vergleicht man den hier vorgeschlagenen Therapie-Ansatz mit den etablierten Formen Fluency-Shaping und Stottermodifikation unter dem Aspekt der Kontrolle, dann kann man – mit Hilfe einer These von Andreas Starke – die Sache folgendermaßen zusammenfassen: Beim Fluency-Shaping müssen die Sprechbewegungen permanent bewusst kontrolliert werden, bei der Stottermodifikation nur dann, wenn Stottern auftritt. Der hier vorgeschlagene Ansatz dagegen bedeutet, auf die bewusste Kontrolle der Sprechbewegungen ganz zu verzichten und statt dessen die Verteilung der Aufmerksamkeit während des Sprechens zu kontrollieren.

Ist Stottern also heilbar? Nein, das ist es meines Erachtens nicht. Schon deshalb nicht, weil Stottern keine Krankheit ist, sondern eine Fehlentwicklung beim Erlernen einer nicht angeborenen Fähigkeit. Angeboren ist nur die Neigung zur Fehlverteilung, insbesondere zum Vorauseilen der Aufmerksamkeit. Diese Neigung kann man durch Übung weitgehend beherrschen lernen – es wird jedoch immer wieder einzelne Situationen geben, in denen die Neigung die Oberhand gewinnt und Stottern auftritt.

 

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Fußnoten

Hören auf die Wortenden

Für Übungszwecke kann es hilfreich sein, die Wortenden deutlich zu sprechen, auch leicht übertrieben. Dabei ist jedoch wichtig, dass die Aufmerksamkeit mehr auf das Hören als auf die Artikulation gerichtet ist.  (zurück) 
 

Klangvorstellung

Damit ist gemeint, dass man sich am Sprechbeginn und gegebenenfalls auch während des Sprechens, z.B. beim Beginnen eines neuen Satzes, vorstellt, wie die eigene Stimme klingen soll – tief, sonor, kraftvoll, fest – jedoch als konkrete auditive Vorstellung. Eine solche Klangerwartung kann dazu beitragen, die Aufmerksamkeit auf die auditive Rückmeldung zu lenken. Es sei jedoch betont, dass das klangvolle Sprechen nur ein Hilfsmittel ist, um die auditive Rückmeldung zu verbessern. Dies könnte ebenso gut durch Flüstern oder durch Verstellen der Stimme erreicht werden, aber diese Mittel sind für den Alltag kaum brauchbar.  (zurück) 
 

Wahrnehmung der Enden der Einatemphasen

Praktisch heißt das, bewusst mit der Ausatemluft zu sprechen. Man kann auch nach dem Atemholen eine kleine Menge Luft ausatmen und erst dann quasi in den Ausatem-Luftstrom hinein zu sprechen beginnen. Es sei noch einmal darauf hingewiesen, dass es hier nicht darum geht, eine eventuelle Fehlatmung zu vermeiden – auch wenn dies als Nebeneffekt erreicht werden mag. Es geht vielmehr darum, einen hinreichenden Teil der Aufmerksamkeit auf die Wahrnehmung der Atmung zu lenken und dadurch deren propriozeptive Rückmeldung zu verbessern.  (zurück) 
 

Fraktioniertes Sprechen (Pausing)

Für Übungszwecke kann man anfangs zwischen jedem Wort oder, falls auch dabei noch Stottern auftritt, zwischen jeder Silbe eine Pause lassen. In der Pause sollte die Aufmerksamkeit auditiv auf das gerade gesprochene Wort bzw. die gerade gesprochene Silbe gerichtet sein; das Wort / die Silbe sollte gewissermaßen innerlich nachklingen. Die Aufmerksamkeit sollte nicht zum nächsten Wort / zur nächsten Silbe vorauseilen. Allmählich verringert man dann die Zahl der Pausen, sodass zusammenhängende Sinnabschnitte entstehen. Es ist oft möglich, bereits nach dem ersten oder zweiten Wort eines Satzes eine Pause zu lassen. Diese Möglichkeit sollte man nutzen, da gerade am Satzbeginn die Planungsanforderungen hoch sind.  (zurück) 
 

Happy Fluency

Dass die Verminderung von Stress beim Sprechen und die Stärkung der Zuversicht das Sprechen unmittelbar verbessern, zeigt sich auch in einem Effekt, den man als „Happy Fluency“ bezeichnet: Während und unmittelbar nach einer Therapie sprechen die meisten Betroffenen deutlich besser – solange sie glauben, dass sie nun endlich einen Weg gefunden haben, sich vom Stottern zu befreien. Aufgrund dieses Effektes können auch völlig absurde Therapiemethoden vorübergehend Erfolge zeigen.  (zurück) 
 

Fluency-Shaping-Therapie

Die Erhöhung des zeitlichen Anteils der stimmhaften Sprachlaute spielt besonders in der von Roger Ingham an der Universität von Kalifornien entwickelten Modifying Phonation Intervals (MPI) Therapy eine zentrale Rolle: Das Mittel, um flüssiges Sprechen zu erreichen, ist hier die Verminderung des Anteils der kurzen stimmhaften Abschnitte (in der Praxis heißt das, dass die kurzen Silben gedehnt werden). Ingham und sein Team haben in einer PET-Studie [9] gezeigt, dass durch diese Therapie die Größe der Aktivierungen in den auditiven Arealen (Gyrus temporalis superior und medius) vergrößert wurde. Im Gyrus temporalis superior entsprach die Größe der Aktivierung im Durchschnitt etwa der von Nichtstotterern, wenn auch mit abweichender Lateralisierung (Verteilung auf die Hirnhälften).  (zurück) 

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Quellen

  1. Muirden (1971, 2003)
  2. Hausdörfer (1933, 1989)
  3. siehe den Film "Stottertherapie für Erwachsene und Jugendliche" (DVD, Demosthenes-Verlag Köln 2014)
  4. siehe die Videos auf der Internetseite des McGuire-Programms
  5. Jacobsen (1992)
  6. Reitzes (2006)
  7. Euler et al. (2009), Natke et al. (2010)
  8. De Nil et al. (2003), Ingham et al. (2003), Neumann et al. (2003)
  9. Ingham et al. (2003)

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