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5. Die weißen Fasern

5. 1. Strukturelle Defizite in der weißen Hirnmasse

In den vorangegangenen Kapiteln habe ich Befunde der Hirnforschung eher am Rande behandelt und meist nur, um zu zeigen, dass sie mit der in den Kapiteln 2 und 3 vorgestellten Theorie des Stotterns vereinbar sind und diese in mancher Hinsicht stützen. Nun sollen die Resultate der Hirnforschung im Mittelpunkt stehen, und ich werde versuchen, sie im Kontext der vorgeschlagenen Theorie zu interpretieren.

Es war besonders eine Entdeckung, die die Hoffnung weckte, den organischen Ursachen des Stotterns auf die Spur zu kommen: Martin Sommer und Koll. in Hambung fanden heraus, dass die Faserverbindungen zwischen Teilen des zerebralen Sprachnetzwerkes bei Stotterern im Durchschnitt strukturell schwächer ausgebildet waren als bei Nichtstotterern [1]. Genauer gesagt: Es wurde in bestimmten Bereichen eine niedrigere fraktionelle Anisotropie festgestellt, was als Indiz für eine geringere Reifung (Myelinisierung) der Fasern interpretiert werden kann (siehe unten). Diese Ergebnisse wurden inzwischen in vielen nachfolgenden Studien bestätigt. Schwachstellen wurden besonders im Fasciculus longitudinalis superior (SLF) auf der linken Hirnhälfte sowie im Corpus Callosum (dem „Balken“, einem dicken B&uunl;ndel aus Nervenfasern, dss beide Hrinhälften verbindet), gefunden, und zwar sowohl bei erwachsenen Stotterern als auch bei größeren stotternden Kindern [2].

SLF

Abbildung 13: Schematische Darstellung des Fasciculus longitudinalis superior, der Faserverbindung zwischen dem posterioren (hinteren) Teil der oberen Temporalwindung (pSTG), dem Gyrus supramarginalis (SMG) und dem posterioren Teil der Broca-Region (Pars opercularis, BA44) auf der linken Hirnhälfte; vergl. [11]. MC = Motorkortex, SC = somatosensorischer Kortex (jeweils der Bereich für die Sprechbewegungen).
 

Bei diesen Fasern, die die weiße Hirnmasse bilden, handelt es sich um Axone, d.h. um jene Fortsätze der Neuronen, die die Erregung von einem Neuron auf andere übertragen. Die Defizite betreffen vermutlich die sogenannte Reifung der Fasern. Sie besteht darin, dass sich um die Faser (das Axon) eine sogenannte Markscheide bildet, eine Hülle aus Myelin, einer fettreichen Membranstruktur. Die Faserreifung wird deshalb auch als Myelinisierung bezeichnet. Im Gehirn erfolgt sie dadurch, dass Oligodendrozyten (Gliazellen, eine Art Bindegewebszellen des Gehirns) Fortsätze ausbilden, die sich jeweils um einen Teilabschnitt eines Axons herumwickeln. Die Myelinhülle wirkt einerseits als elektrische Isolation, verringert also die Spannungsverluste bei der Impulsweiterleitung und schirmt die Faser gegen Fremdspannungen ab. Außerdem bewirkt die Myelinhülle, dass elektrische Impulse schneller weitergeleitet werden (saltatorische Erregungsleitung).

Die Myelinhüllen um bestimmte Fasern des Sprachnetzwerkes sind also bei Stotterern im Durchschnitt schwächer ausgebildet als bei Nichtstotterern. An den Befunden selbst ist allerdings nicht erkennbar, ob sie die Ursache des Stotterns sind oder womöglich nur Folge jahrelangen Stotterns. Um diese Frage zu beantworten, ist es sinnvoll, zunächst den Verlauf und die Bedeutung der Myelinisierung eingehender zu betrachten.

Die Myelinhülle bewirkt, wie schon erwähnt, eine schnellere Erregungs-Weiterleitung. Doch es geht gewiss nicht nur darum, das Gehirn insgesamt schneller zu machen. Dann könnten nämlich alle Fasern von Geburt an myelinisiert sein – wie es bei einigen Fasern, die quasi zum „Betriebssystem“ des Organismus gehören, der Fall ist. Die Myelinisierung der sekundären sensorischen und motorischen Areale – um die geht es hier vor allem – erfolgt jedoch erst allmählich im Verlauf der kindlichen Entwicklung  (mehr...) . So wurde in einer Studie aus dem Jahr 2009 [5] bei siebenjährigen, nicht stotternden Kindern, verglichen mit Erwachsenen, eine verminderte Myelinisierung der weißen Fasern im SLF festgestellt, also in jenem Faserbündel, das bei chronischen Stotterern ein Myelinisierungs-Defizit aufweist. Der Befund zeigt, dass die Myelinisierung der Fasern in diesem Bereich im Verlauf der Kindheit allmählich fortschreitet.

Der allmähliche und ungleichmäßige Fortschritt der Myelinisierung lässt vermuten, dass wir es mit einem Mechanismus zu tun haben, der dazu dient, das Gehirn an die Anforderungen der konkreten Umwelt anzupassen, in die das Lebewesen hineingeboren wurde. Das könnte dadurch geschehen, dass nur diejenigen neuronalen Netzwerke gestärkt, also schneller und effizienter gemacht werden, die erfolgreiches Verhalten steuern – die also bei erfolgreichem Verhalten aktiviert sind  (mehr...) .

Für diese Hypothese sprechen mehrere empirische Befunde. Bereits 2005 fanden schwedische Forscher bei professionellen Pianisten (im Vergleich zu Nichtmusikern) eine höhere Faserdichte zwischen Kortexarealen für die Fingerbewegungen und solchen, in denen beim Musizieren kognitive Prozesse ablaufen. Die Zunahme der Faserdichte war um so größer, je mehr der Pianist über die Jahre geübt hatte [6]. In einer 2009 veröffentlichten Studie wurde gezeigt, dass sich durch Jonglier-Training die fraktionelle Anisotropie (also vermutlich die Myelinisierung) bestimmter Fasern erhöhen lässt [7]  (mehr...) . In einer ebenfalls 2009 erschienenen Studie wurde nachgewiesen, dass sich durch systematisches Üben die Lesefähigkeit von Kindern mit Leseschwäche verbessern lässt, und dass dadurch zugleich die fraktionelle Anisotropie von Fasern, die bei der Verknüpfung von Schrift und Sprechen eine Rolle spielen, erhöht wird [12]  (mehr...) . Außerdem ist es gelungen, einen biochemischen Mechanismus nachzuweisen, der die Myelinisierung in Abhängigkeit von der elektrischen Aktivität der Nervenfasern steuert [8]  (mehr...) . Diese Befunde stützen die These, dass die Faserreifung ein Mechanismus ist, der das Gehirn an die Anforderungen der konkreten Umwelt anpasst und das Lernen durch Wiederholung und Training unterstützt.

Beim Spracherwerb spielt das Einüben, Angewöhnen und Automatisieren des richtigen Verhaltens eine zentrale Rolle. Das Kind lernt auf diese Weise, die Wörter richtig auszusprechen, sie zu beugen und in der richtigen Reihenfolge zu Sätzen zusammenzufügen, ohne explizit etwas von syntaktischen und grammatischen Regeln zu wissen. Es ahmt einfach das Verhalten der Älteren nach und gewöhnt es sich an. Es wurde bereits betont, dass das spontane flüssige Sprechen viel mehr auf Verhaltensroutinen beruht als auf bewusster Sprechplanung – von der Wahl der wichtigen, die Bedeutung tragenden Wörter einmal abgesehen. Es ist deshalb plausibel anzunehmen, dass die allmähliche Myelinisierung der Fasern des Sprachnetzwerkes den Erwerb der Muttersprache begleitet.

Wenn es richtig ist, dass die Myelinisierung eine Stärkung derjenigen Nervenfasern bewirkt, die häufig aktiv sind – die also ein Verhalten steuern, das häufig auftritt – dann könnte die geringere Dichte (und vermutete mangelnde Myelinisierung) der Fasern im Sprachnetzwerk bei Stotterern die Folge einer lang andauernden mangelnden Aktivierung dieser Fasern sein, vielleicht im Zusammenhang mit der Minderakitivierung der sekundären auditiven Areale, wie sie im mehreren Studien festgestellt wurde [10]. Das würde bedeuten: Die Fasern sind durchaus funktionstüchtig, sie sind nur schwach entwickelt – ähnlich einem Muskel, der wenig beansprucht wird.

Für die Annahme, dass die Faserverbindungen zwischen auditiven Arealen und Sprechsteuerung und innerhalb des Sprechnetzwerkes im Prinzip funktionstüchtig ist, spricht folgende Beobachtung: Wenn Stotterer gezwungen sind, beim Sprechen auf externe auditive Reize und gleichzeitig auf ihre eigene Rede zu hören und diese Informationen in die Sprechsteuerung einzubeziehen, dann sind sie dazu nicht nur problemlos in der Lage, sondern es tritt dann auch kaum Stottern auf. Das ist z.B. der Fall beim Lesen im Chor, beim Sprechen mit Metronom und beim Schattensprechen (siehe Abschnitt 4.1). Diese Beobachtungen sprechen gegen die These, dass die strukturellen Defizite der Fasern die Ursache einer Rückmeldungsstörung und, infolge dessen, Ursache des Stotterns sind (was von manchen Forschern angenommen wurde). Ich vermute deshalb speziell für den linken SLF folgenden Zusammenhang:

Die Fasern des linken SLF spielen eine Rolle bei der auditiven Rückmeldung. Da (nach der hier vorgeschlagenen Theorie) Stotterer ihre Aufmerksamkeit tendenziell vom auditiven Kanal abziehen und dadurch die Rückmelde-Informationen in geringerem Maße in die Sprechsteuerung einbezogen werden als bei Normalsprechern, werden sowohl Teile des linken STG (Wernicke-Region) als auch Teile des linken SLF über Jahre vermindert aktiviert. Die Folge ist eine verzögerte Myelinisierung von Teilen des SLF.

Das würde bedeuten: Die schwächere Myelinisierung im linken SLF ist nicht unmittelbare die Ursache der Stotternsymptome. Sie könnte allerdings zur Aufrechterhaltung und Verfestigung der Störung, denn das linke Sprachnetzwerk (oder ein Teil davon) wird möglicherweise langsamer aktiviert als konkurrierende Netzwerke – z.B. auf der rechten Hemisphäre und z.B. solche, die im Zusammenhang mit Sekundärsymptomen wie Stress und Angst oder im Zusammenhang mit fragwürdigen Kompensationen wie übermäßiger Sprechplanung oder willentlicher sprechmotorischer Kontrolle stehen.
 

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Fußnoten

Fraktionelle Anisotropie

Sowohl der Verlauf von Nervenfaserbündeln als auch ihre Dichte oder strukturelle Integrität – und damit vermutlich der Grad der Myelinisierung der Fasern – wird gemessen durch die Bestimmung der fraktionellen Anisotropie, d.h., des Richtungsunterschiedes in der Diffusion der Wassermoleküle. Normalerweise diffundieren die Moleküle aufgrund der Brownschen Molekularbewegung in alle Raumrichtungen gleichmäßig. In einem Nervenfaserbündel ist dagegen die Diffusion in Faserrichtung stärker als quer zur Faserrichtung, und zwar um so mehr, je besser die Fasern mit Myelin umhüllt sind.  (zurück) 
 

Fasciculus longitudinalis superior (SLF)

Es handelt sich um das „obere lange Faserbündel“, das den unteren Parietalkortex und den Temporalkortex mit dem Frontalkortex verbindet. Die englische Bezeichnung ist Superior Longitudinal Fascicle, abgekürzt SLF. Die strukturellen Defizite bei Stotterern betreffen anscheinend das dritte Teilbündel des SLF, das als SLF III bezeichnet wird [3]. Allerdings scheint über die Anatomie des SLF noch keine endgültige Einigkeit zu bestehen [4].  (zurück) 
 

Sukzessive Faserreifung

Gerhard Roth schreibt dazu: „Vor der Geburt werden die Axone von Zellen im Rückenmark und verlängerten Mark myelinisiert, unmittelbar nach der Geburt die Axone von Zellen im Mittel- und Kleinhirn. Im ersten und zweiten Jahr folgen Axone im Thalamus, in limbischen Zentren des Endhirns und in den Basalganglien, dann solche in den primären sensorischen und motorischen Arealen der Großhirnrinde. Anschließend werden die sekundären sensorischen und motorischen Areale myelinisiert. Noch später erfolgt die Myelinisierung in den assoziativen Arealen. Hier sind es der präfrontale und insbesondere der orbitofrontale Cortex, deren Fasern zuletzt myelinisiert werden; dies kann sich bis zum zwanzigsten Lebensjahr hinziehen.“ [9]  (zurück) 
 

Myelinisierung und biologisches Lernen

Im Verlauf der Evolution dürfte die Tatsache eine Rolle gespielt haben, dass unter den Bedingungen der Wildnis ein Verhalten, das über Monate häufig wiederholt wird, mit hoher Wahrscheinlichkeit ein nützliches Verhalten ist. Ein wild lebendes Tier wird kaum immer wieder denselben Fehler machen – jedenfalls dann nicht, wenn der Fehler unmittelbar spürbare negative Folgen für seine Ernährung, Fortpflanzung oder Sicherheit hat. Wenn aber ein sich häufig wiederholendes Verhalten mit großer Wahrscheinlichkeit ein „richtiges“ Verhalten ist, dann ist es für das Überleben von Vorteil, das neuronale Netzwerk, das dieses Verhalten initiiert und steuert, schneller zu machen: Die Beschleunigung der Erregungsleitung bewirkt, dass in der entsprechenden Situation dieses Netzwerk als erstes aktiviert wird und „spontan“ das richtige Verhalten initiiert. Auf diese Weise wird das nützliche Verhalten stabilisiert und automatisiert. Die Myelinisierung würde damit das biologische, nicht-kognitive Lernen, das Lernen durch Wiederholung und Übung unterstützen.

Die Stärkung des „richtigen“ Netzwerkes erfolgt dadurch, dass diejenigen Fasern, die über eine lange Zeit häufig aktiv sind, „belohnt“ werden: Sie werden besser isoliert und können Erregungen schneller weiterleiten. Dadurch gewinnen sie und die von ihnen gebildeten neuronalen Netze einen Vorteil: Sie können konkurrierenden langsameren Netzwerken zuvorkommen und das Verhalten in einer bestimmten Situation steuern. So wird das richtige Verhalten automatisiert, es wird zu einer Gewohnheit. Auf diese Weise entwickeln sowohl Tiere als auch Menschen umweltadäquate Verhaltensroutinen: Ein Verhalten, das sich unmittelbar als nützlich oder angenehm erweist, wiederholen wir und gewöhnen es uns an, d.h., wir automatisieren es. Ein Verhalten, dessen Folgen wir als unmittelbar schädlich oder unangenehm erleben, wiederholen wir gewöhnlich nicht – oder nicht so oft.

Die Myelinisierung der Nervenfasern im Gehirn ist also ein Mechanismus, der der Stabilisierung und Automatisierung von nützlichem Verhalten dient – jedenfalls für wild lebende Tiere. Für uns Menschen in der Zivilisation ist dieser archaische Mechanismus nicht unproblematisch: Jemand gewöhnt sich das Lügen an, weil es sich als unmittelbar nützlich erweist, oder den Genuss von Drogen, weil die unmittelbar wahrnehmbaren Folgen angenehm sind. Doch auch der Erwerb nützlicher Gewohnheiten und Fertigkeiten beruht weitgehend auf diesem Mechanismus: Durch Wiederholung gewöhnt man sich an, etwas auf die richtige Weise zu tun. Man automatisiert einen korrekten Bewegungs- oder Verhaltensablauf, indem man ihn übt und trainiert.  (zurück) 
 

Steigerung der Faserdichte durch Jongliertraining

Eine Gesamtgruppe von 48 Versuchspersonen wurde zweigeteilt: 24 Probanden trainierten sechs Wochen lang Jonglieren. Danach konnten alle Teilnehmer dieser Gruppe zumindest zwei Durchgänge der klassischen „Kaskade mit drei Bällen“ ausführen. Die fraktionelle Anisotropie wurde vor und nach der sechswöchigen Trainingsperiode und zusätzlich nach weiteren vier Wochen, in denen kein Training stattfand, gemessen. Es zeigte sich infolge des Trainings ein deutlicher Anstieg der fraktionellen Anisotropie innerhalb der weißen Fasern, die unterhalb des rechten posterioren intraparietalen Sulcus verlaufen. Diese Fasern verbinden den mittleren Okzipitallappen (visuelle Wahrnehmung) mit dem Parietallappen (Propriozeption, Wahrnehmung der eigenen Bewegungen). Jonglieren erfordert schnelle und exakte Arm- und Handbewegungen und das Verfolgen der Bewegungen der Bälle mit den Augen.

Auch in der Messung vier Wochen später war die fraktionelle Anisotropie der weißen Fasern höher als in der Messung vor dem Training. Es wurde kein Zusammenhang gefunden zwischen den Veränderungen der weißen Hirnmasse und dem Trainingserfolg – also wie gut die einzelnen Probanden nach dem Training jonglieren konnten. Daher nehmen die Autoren der Studie an, dass die Veränderungen im Gehirn vor allem ein Effekt der Trainingszeit sind [7].  (zurück) 
 

Verbesserung der Myelinisierung durch Lesetraining

47 Kinder zwischen 11 und 12 Jahren mit Leseschwäche wurden nach dem Zufallsprinzip zwei Gruppen zugeteilt: Eine Gruppe von 35 Kindern erhielt 100 Stunden intensiven und systematischen Förderunterricht im Lesen – die andere Gruppe (12 Kinder) erhielt normalen Schulunterricht. Außerdem gab es eine Kontrollgruppe von 25 Kindern gleichen Alters ohne Leseschwäche.

Es war schon vor der Untersuchung bekannt, dass Kinder mit Leseschwäche – als Gruppe, im Durchschnitt, verglichen mit Kindern ohne Leseschwäche – ein strukturelles Defizit in weißen Fasern aufweisen, die unter dem mittleren Bereich der oberen Windung des linken Frontallappens verlaufen. Die Defizite liegen also in einem anderen Hirnareal als die, die bei Stotterern gefunden wurden; die betroffenen Fasern haben mit der Verknüpfung von Schrift und Sprache zu tun.

In allen drei Gruppen wurde vor der Untersuchung die fraktionelle Anisotropie (FA) in der fraglichen Gehirnregion bestimmt und noch einmal, nachdem die größere Gruppe der leseschwachen Kinder die 100 Stunden Förderunterricht absolviert hatte, d.h. nach ca. 6 Monaten. Die FA der Gruppe, die Förderunterricht erhalten hatte, war deutlich erhöht, die FA der beiden anderen Gruppen war kaum verändert.Die Erhöhung der FA kam dadurch zustande, dass sich die Diffusion radial zum Faserverlauf verringert hatte. Das lässt darauf schließen, dass sich die Myelinisierung der Fasern verbessert hatte [12].  (zurück) 
 

Steuerung der Myelinisierung durch elektrische Aktivität

Douglas Fields und seine Kollegen am National Institue of Health in Bethesda (Maryland) ließen Neurone von Mäuseembryonen in Kulturschalen heranwachsen. Über Elektroden wurden diese Zellen elektrischen Impulsen ausgesetzt. Es zeigte sich, dass sich die Impulse auf die Aktivität bestimmter Gene der Neurone auswirkten. Eines dieser Gene sorgt für die Produktion eines klebrigen Proteins, das gebraucht wird, um außen am Axon zu Beginn der Myelinbildung die erste Membranschicht zu befestigen. Außerdem zeigte sich, dass die Gliazellen auf die elektrischen Impulse reagierten: Astrozyten (eine Sorte Gliazellen) schütten eine Substanz aus, die die Oligodendrozyten zu verstärkter Myelinproduktion anregt. Die Befunde zeigen, dass die Myelinisierung auf die elektrische Aktivität abgestimmt und die Myelinisierung elektrisch aktiver Axone unterstützt wird [8].  (zurück) 
 

Kompensations-Theorie

In der Literatur ist häufig davon die Rede, dass das Gehirn strukturelle oder funktionelle Defizite, die bei Stotterern auf der linken Hirnhälfte bestehen, auf der rechten Hirnhälfte kompensiert; dadurch erklären sich z.T. die häufig festgestellten Überaktivierungen und die Vergrößerung des Volumens der grauen Hirnmasse. So richtig das ist, sollten wir doch eines beachten: Wir können nicht davon ausgehen, dass das Gehirn selbst über ein Wissen darüber verfügt, was in seinem Innern nicht optimal funktioniert. Es ist die Person, die bemerkt, dass etwas nicht so funktioniert, wie es sollte – z.B. das Sprechen. Und es ist die Person, die dann versucht, mit dem Problem klarzukommen und – spontan oder zielgerichtet – Verhaltensweisen entwickelt, die den Mangel kompensieren sollen. Diese Verhaltensweisen können mehr oder weniger sinnvoll sein, aber wenn die Person das Gefühl hat, dadurch besser zurechtzukommen, wird sie sich dieses Verhalten angewöhnen. Das wiederum führt nach einiger Zeit zu veränderten Strukturen und Aktivitätsmustern im Gehirn: Die Bereiche, die das kompensatorische Verhalten initiieren und steuern, werden gestärkt. Wenn man Struktur- oder Aktivitätsabweichungen im Gehirn von Stotterern findet, die auf Kompensation hindeuten, kann man also immer fragen: Welches Verhalten steht damit im Zusammenhang?  (zurück) 
 

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Quellen

  1. Sommer et al. (2002)
  2. u.a. Cai et al. (2014b), Chang et al. (2008), Chang und Zhu (2013), Chang, Zhu, Choo und Angstadt (2015), Chow und Chang (2017), Cykowski et al. (2010), Watkins et al. (2008)
  3. Cykowski et al. (2010)
  4. vergleiche Makris et al. (2005) mit Catani et al. (2005)
  5. Brauer (2009)
  6. Bengtsson et al. (2005)
  7. Scholz et al. (2009)
  8. Fields (2005, 2008), Wake, Lee, & Fields (2011)
  9. Roth (2007), S. 59
  10. Braun et al. (1997), Fox et al. (1996), Ingham et al. (2003)
  11. Frey et al. (2008), Kelly et al. (2010)
  12. Keller & Just (2009)

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