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Einführung

Hypothesen und Theorien über die Ursachen des Stotterns gab und gibt es viele. Einige sind inzwischen wohl endgültig zu den Akten gelegt, so die Theorien über Stottern als Muskelkrampf, als Neurose oder als erlerntes falsches Sprechmuster. Heute herrscht weitgehend Konsens darüber, dass Stottern mit einer Fehlfunktion im Gehirn zusammenhängt – es gibt eine Fülle empirischer Daten, die das nahelegen – und dass diese Fehlfunktion sehr wahrscheinlich eine genetische Grundlage hat. Doch weder wissen wir, wie die gefundenen Mutationen [1] mit den seltsamen Aktivierungsmustern im Stotterer-Gehirn zusammenhängen, noch können wir sagen, wie und warum diese Aktivierungsmuster jemanden dazu bringen, beim Sprechen gegen seinen Willen Wörter oder Teile davon zu wiederholen, Laute zu dehnen oder total steckenzubleiben.

Man kann Stottern nicht erklären, indem man einfach sagt, dass die Steuerung des Sprechens zusammenbricht oder dass die Person die Kontrolle über ihr Sprechen verliert – so sehr ein Stotternder das Feststecken in der Blockierung subjektiv als Kontrollverlust empfinden mag. Ein Zusammenbruch (breakdown) der Sprechsteuerung könnte schließlich auch ganz anders aussehen: Warum entsteht kein unverständliches Lallen oder Nuscheln, kein Unsinn-Reden, kein unkontrolliertes Schreien – oder was die Phantasie sich sonst als außer Kontrolle geratenes Sprechen vorstellen könnte? Warum entstehen genau jene spezifischen Symptome, die wir als Stottern bezeichnen? Um diese Frage – also um die Frage nach dem „Mechanismus“ des Stotterns – wird es hier vor allem gehen. Die Erklärung dieses Mechanismus sollte uns erlauben, auch die vielen anderen mit dem Phänomen Stottern zusammenhängenden Fragen zu beantworten (mehr...) .

Dabei wird das Hören der eigenen Sprache während des Sprechens eine zentrale Rolle spielen. Es wird üblicherweise als auditve Rückmeldung oder Rückkopplung (auditory feedback) bezeichnet. Die auditive Rückmeldung steht seit langem im Verdacht, an der Verursachung des Stotterns beteiligt zu sein {2], denn die Symptome werden meist weniger oder verschwinden vorübergehend ganz, wenn ein Stotterer anders spricht und/oder sein Sprechen in einer anderen Weise hört als gewöhnlich. Das ist beispielsweise der Fall beim Sprechen im Chor, beim Schattensprechen beim Sprechen in einem ungewohnten Dialekt oder mit verstellter Stimme, beim Sprechen unter künstlicher Vertäubung durch lautes Rauschen (über Kopfhörer), beim Sprechen mit verzögerter auditiver Rückmeldung (delayed auditory feedback, DAF) oder mit frequenzveränderter auditiver Rückmeldung (frequency-altered auditory feedback, FAF) [3].

Es ist vermutet worden, dass in zumindest einigen dieser Fälle das Stottern deshalb verschwindet oder deutlich vermindert wird, weil die Aufmerksamkeit des Sprechers vom Hören auf die eigene Sprache abgelenkt wird. Dadurch, so glaubte man, würde die (möglicherweise fehlerhafte) auditive Rückmeldung eine geringere Rolle bei der Steuerung des Sprechens spielen [4]. Neuere Untersuchungen des Gehirns mit bildgebenden Verfahren haben jedoch gezeigt, dass verändertes Sprechen und/oder verändertes Hören der eigenen Sprache mit größeren Aktivierungen in den sensorischen Spracharealen der Großhirnrinde verknüpft sind – also in den Bereichen, die um die primäre Hörrinde herum angeordnet sind und in denen die Sprachwahrnehmung und das Sprachverstehen lokalisiert sind:

Größere Aktivierung der auditiven Areale zeigte sich beispielsweise beim Sprechen nach einem vorgegebenen Rhythmus, beim Lesen im Chor und beim Singen [5]. Größere Aktivierungen der auditiven Areale wurden auch beim Sprechen mit küatlich veränderter auditiver Rückmeldung, wie sie in elektronischen Sprechhilfen für Stotterer eingesetzt wird, festgestellt – allerdings gibt es dazu bis jetzt nur Studien mit nicht stotternden Probanden [14]. In einer 2014 veröffentlichten Meta-Analyse von sieben Studien, bei denen stotterreduzierende Hilfen wie Metronom oder Chorsprechen eingesetzt wurden [12], waren es nur die auditiven Areale, die beim flüssigen Sprechen übereinstimmend stärker aktiviert waren. Das spricht nicht gerade für die Ablenkungs-Hypothese, denn es ist inzwischen auch bekannt, dass das Richten der Aufmerksamkeit auf das Hören von Sprache mit höherer Aktivierung der sensorischen Sprachareale verknüpft ist [6].

Doch nicht nur die oben genannten stotterreduzierenden Bedingungen sind mit gesteigerter Aktivität in den sensorischen Spracharealen verknüpft. Auch in anderen Fällen wurden bei besserer Sprechflüssigkeit größere Aktivierungen in diesen Regionen der Großhirnrinde gefunden. So waren sie während des Sprechens bei Nichtstotterern, aber auch bei ehemaligen Stotterern im Durchschnitt stärker aktiviert als bei Stotterern [7]. In einigen Studien wurde eine negative Korrelation von Stotterrate und auditiver Aktivierung gefunden [8], d.h. je stärker das Stottern war, um so geringer waren im Durchschnitt die Aktivierungen in den sensorischen Spracharealen während des Sprechens, und umgekehrt, je milder das Stottern, um so höher waren die Aktivierungen. Vor einer Therapie hatten Stotterer mit niedrigerer Stotterrate (als Gruppe) im Durchschnitt größere Aktivierungen während des Sprechens in den sensorischen Spracharealen als Stotterer mit höherer Stotterrate [9], und nach einer Fluency-Shaping-Therapie zeigten die Teilnehmer im Durchschnitt größere Aktivierungen während des Sprechens in diesen Arealen als vor der Therapie [10]. Das ist erstaunlich, weil es in Fluency-Shaping-Therapien nicht beabsichtigt ist, die Sprachwahrnehmung zu beeinflussen.

In zwei Meta-Analysen, erschienen 2005 und 2014, wurden die Resultate aller bis dahin durchgeführten bildgebenden Studien der Hirnaktivität von Stotterern verglichen und statistisch ausgewertet [13]. In beiden Meta-Analysen zeigte sich, dass die fehlende Aktivierung auditiver Areale der Großhirnrinde eines der charakteristischsten Merkmale des Hirnaktivitäts-Musters von Stotterern ist. Die folgende Tabelle gibt einen Überblick über Studien, in denen ein Zusammenhang zwischen dem Stottern und der Aktivierung der sensorischen Sprachareale gefunden wurde. In den vier unteren Zeilen der Tabelle geht es um den Effekt stotterreduzierender Bedingungen, also Sprechbedingungen, unter denen das Stottern meist deutlich weniger wird oder ganz verschwindet, im Vergleich zu Sprechbedingungen, unter denen gewöhnlich das für die Person "normale" Stottern auftritt.

 
 geringere Aktivierung  größere Aktivierung Studien
 Stotterer  Nichtstotterer
 (niemals gestottert)
 Fox et al., 1996
 Braun et al., 1997
 Ingham et al., 2003
 Brown et al., 2005 *
 Budde et al., 2014 *
 Stotterer  ehemalige Stotterer
 (als Kinder gestottert)
 Ingham et al., 2003
 schwereres Stottern
 (höhere Stotterrate)
 milderes Stottern
 (niedrigere Stotterrate)
 Fox et al., 2000
 Ingham et al., 2004
 Neumann et al., 2003 
 Stotterer vor einer
 Fluency-Shaping-
 Therapie
 Stotterer nach einer
 Fluency-Shaping-
 Therapie
 De Nil et al., 2003
 Ingham et al., 2003
 Neumann et al., 2003
 Lesen solo  Lesen im Chor  Fox et al., 1996
 freies Erzählen +
 Satzbildung mit
 vorgegebenem Verb
 auswendig Sprechen +
 Sprechen mit
 Metronom
 Braun et al., 1997
 freies Erzählen +
 Satzbildung mit
 vorgegebenem Verb
 Lesen im Chor +
 Singen
 Stager et al., 2003
 Gewohnte
 Sprechweise
 gedehntes Sprechen;
 Pseudostottern
 De Nil et al. (2008)
 normales Lesen (solo)  Lesen im Chor +
 Sprechen mit Metronom 
 Toyomura et al., 2011 
 stotterndes
 Sprechen
 induziertes
 flüssiges Sprechen 
Budde et al., 2014 *

Tabelle 1: Aktivierung sensorischer Spracharele (in denen die Sprachwahrnehmnung und das Sprachverstehen lokalisiert sind). * = Meta-Analyse
 

Zwischen der Wahrnehmung der eigenen Sprache während des Sprechens und dem Stottern scheint also irgendein Zusammenhang zu bestehen. Doch dieser Zusammenhang ist bis heute kaum verstanden, weil die Beobachtungen, wie oben angedeutet wurde, äußerst widersprüchlich sind. Die Theorie, die auf den folgenden Seiten vorgestellt wird, versucht diese Widersprüche aufzulösen, den Zusammenhang zwischen Stottern und Hören zu erklären und dadurch etwas mehr Licht in den "Mechanismus" des Stotterns zu bringen.

Dabei gehe ich davon aus, dass es sich beim Stottern um eine Störung des normalen Sprechens handelt. Das heißt: Wenn Stotterer fließend sprechen, dann sprechen sie normal, und wenn sie stottern, dann ist ihr normales Sprechen gestört. Das klingt trivial, doch man kann dagegen einwenden, dass die Gehirne von Stotterern auch beim fließenden Sprechen, ja sogar beim stillen verbalen Denken abweichende Aktivierungsmuster zeigen [11]. Heißt das nicht, dass das Sprechen von Stotterern auch dann nicht normal funktioniert, wenn es sich äußerlich normal anhört?

Ich denke, wir müssen unterscheiden zwischen dem Sprechen im linguistischen Sinn und dem, was dabei im Gehirn geschieht. Nehmen wir der Einfachheit halber an, normales Sprechen sei das korrekte Aneinanderreihen von Wörtern. Auch ein Stotterer würde nach dieser Definition normal sprechen, wenn er die Wörter korrekt aneinanderreiht – gleichgültig, ob sein Gehirn dafür womöglich mehr Aufwand treiben muss als die Gehirne anderer Leute. Vielleicht sind Stottererhirne für das Sprechen weniger optimal strukturiert, und deshalb ist in ihnen für das Wörter-Aneinanderreihen mehr Aktivierungsaufwand nötig. Wenn wir normales Sprechen an eine bestimmte Gehirnaktivität knüpfen, kommen wir vermutlich in Schwierigkeiten, denn auch die Aktivierungsmuster nicht stotternder und ansonsten normal sprechender Personen können stark voneinander abweichen. Ich gehe deshalb davon aus, dass Stotterer immer dann, wenn sie spontan und ohne Hilfe einer Sprechtechnik flüssig sprechen, im linguistischen Sinn normal sprechen – gleichgültig, was dabei auf der unbewussten Ebene in ihren Gehirnen vorgeht.

Um Stottern als Störung des normalen Sprechens verstehen zu können, müssen wir uns zunächst darüber klar werden, wie das normale Sprechen funktioniert – und darüber, welche Bedeutung das Hören der eigenen Sprache für das normale Sprechen hat. Das ist das Thema der nächsten Seite.
 

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Fußnoten

Stotterer

Ich gebrauche diese Bezeichnung im Sinne von: eine Person mit einer (vermutlich angeborenen) Veranlagung zum Stottern, bei der mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit Stottern auftreten wird. Daraus folgt nicht, dass diese Person in irgendeiner konkreten Situation notwendigerweise stottern muss. Im günstigsten Fall, etwa nach einer erfolgreichen Therapie, stottert sie kaum noch, obwohl die Veranlagung bestehen bleibt. Dagegen ist ein Stotternder jemand, der gerade dabei ist, zu stottern. Auch Bezeichnungen wie stotternder Mensch oder Mensch, der stottert lassen eher an aktuelles Stottern denken.  (zurück) 
 

Theorie des Stotterns

Eine Theorie des Stottern, die diesen Namen verdient, sollte etwa die folgenden Fragen beantworten:

Außerdem muss eine Theorie des Stotterns wie jede ernst zu nehmende Theorie in sich logisch widerspruchsfrei und zusammenhängend (konsistent und kohärent) und mit den empirischen Daten vereinbar sein. Letzteres heißt jedoch nicht, dass die Theorie aus den Daten abgeleitet sein muss. Meines Erachtens lassen sich allein aus Daten keinerlei theoretische Aussagen ableiten. Daten können immer nur vor dem Hintergrund bereits bestehender Theorien interpretiert werden. Die Theorien selbst sind Produkte des spekulativen Denkens – Gedankenkonstrukte, mit deren Hilfe wir versuchen, die Phänomene zu verstehen, d.h. Licht in deren kausale Zusammenhänge zu bringen. Zuerst muss eine Theorie aufgestellt werden – danach kann man sie anhand empirischer Daten prüfen.  (zurück) 
 

Schattensprechen

(shadowing) ist das gleichzeitige Hören und Nachsprechen eines Textes; das Nachsprechen erfolgt mit geringer zeitlicher Verzögerung. Mehr darüber in diesem Thread im BVSS-Forum.  (zurück) 
 

Sensorische Sprachareale

Das ist hier vor allem das klassische Wernicke-Areal, also der hintere Bereich der oberen Windung des Temporallappens (Gyrus temporalis superior), engl. posterior superior temporal gyrus (pSTG), im Brodmann-Areal 22 auf der sprachdominanten Hirnhälfte (gewöhnlich die linke). An der Wahrnehmung und am Verstehen von Sprache sind darüber hinaus weitere Hirnareale, u.a. auf dem linken und rechten Temporalkortex und dem unteren Parietalkortex beteiligt.  (zurück) 
 

Flüssiges Sprechen

Ich gebrauche das Wort "flüssig" als Bezeichnung für "ohne zu stottern". Die Ausdrucksweise ist unschön, hat sich aber eingebürgert. "Fließendes Sprechen" dagegen bezeichnet ein Sprechen, das auch frei von normalen Unflüssigkeiten ist, wie etwa Verhalspeln oder Stocken, um nach einem passenden Wort zu suchen.  (zurück) 
 

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Quellen

  1. siehe z.B. Kraft & Yairi (2012)
  2. siehe z.B. Cherry & Sayers (1956), Maraist & Hutton (1957), Sandow (1898), Van Riper (1973), Yates (1963)
  3. siehe z.B. Fiedler u. Standop (1994), S. 15, 117–120
  4. z.B. Cherry & Sayers (1956), Van Riper (1973
  5. Braun et al. (1997), Fox et al. (1996), Ingham et al. (2003), Stager, Jeffries & Braun (2003), Toyomura, Fujii & Kuriki (2011)
  6. Sabri et al. (2008)
  7. Brown et al. (2005), Ingham et al. (2003)
  8. Braun et al. (1997), Fox et al. (2000), Ingham et al. (2004)
  9. Neumann et al. (2003)
  10. De Nil et al. (2003), Ingham et al. (2003), Neumann et al. (2003)
  11. siehe z.B. Neumann et al. (2003)
  12. Budde, Barron & Fox (2014)
  13. Brown et al. (2005), Budde, Barron & Fox (2014)
  14. Hashimoto & Sakai (2003), Takaso et al. (2010), Tourville, Reilly & Guenther (2008)

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