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6.2. Chronisches Stottern

Wenn die Annahmen über das vorübergehende Stottern im vorigen Abschnitt richtig sind, dann stellt sich die Frage, warum ein kleiner Teil der vom Stottern betroffenen Kinder es nicht lernt, seine Aufmerksamkeit den neuen Erfordernissen des gebundenen Sprechens anzupassen? Es scheint hierfür eine doppelte Ursache zu geben: (1) ein Problem im Aufmerksamkeits-System ähnlich wie beim vorübergehenden Stottern und (2) ein Defizit in der zentral-auditiven Verarbeitung, das beim vorübergehenden Stottern nicht vorhanden zu sein scheint. Möglicherweise hängen diese beiden Faktoren miteinander zusammen, oder es besteht eine Wechselwirkung zwischen ihnen. Die Entwicklung des chronischen Stotterns ist in Abb. 20 dargestellt.

Ursachen und Entwicklung des chronischen Stotterns.

Abbildung 20: Entwiclung des chronischen Stotterns.

Ein Befund von Chow und Chang (2017), durch den sich die Gruppe der Kinder, deren Störung sich als chronisch erwies von der Gruppe der späteren Remittenten unterschied, ist ein anfänglich (bei den jüngsten Kindern) höherer FA-Wert und dessen abnorme, stagnierende oder abfallende Entwicklungstendenz in der Umgebung des Thalamus (siehe in Fig. 2 die Cluster 8, 9 und 10 in der Studie). Diese Befunde lassen schwerlich als Folge des Stottern interpretieren, weil die Unterschiede bei den jüngsten Kindern am deutlichsten sind. Da der Thalamus eine zentrale Rolle bei der Steuerung der Aufmerksamkeit spielt, kann dieser Befund mit einer abnormen Entwicklung des Aufmerksamkeits-Systems zusammenhängen.

Auch die abweichende funktionelle Konnektivität zwischen den Aufmerksamkeits-Netzwerken und dem Defaultmodus-Netzwerk (Fig. 3 in Chang et al., 2018) zeugt von Problemen im Aufmerksamkeits-System bei chronisch stotternden Kindern; die Defizite unterscheiden sich aber offenbar z.T. von denen der Kinder mit vorübergehendem Stottern. Die normale Entwicklung verläuft so, dass die anderen Netzwerke sich allmählich vom DMN abkoppeln. Die im vorigen Abschnitt erwähnte zu hohe Konnektivität zwischen ventralem Aufmerksamkeits-Netzwerk (VAN) und DMN bei den Kindern mit vorübergehendem Stottern würde also auf eine Entwicklungs-Verzögerung hindeuten, die im Zuge der Remission teilweise überwunden, teilweise kompensiert wird. Bei den chronisch stotternden Kindern bestand dagegen überwiegend eine zu geringe Konnektivität sowohl zwischen VAN und DMN als auch zwischen dem dorsalen Aufmerksamkeit-Netzwerk und dem DMN, was eine zu frühe Abkopplung der Netzwerke bei diesen Kindern vermuten lässt. Das könnte dann negative Auswirkungen auf die weitere Entwicklung des Aufmerksamkeitssystems und seine Integration in die Verhaltenssteuerung haben.

Es gibt außerdem viele Verhaltensstudien, in denen Defizite bei der Aufmerksamkeitssteuerung bei stotternden Kindern und Erwachsenen deutlich wurden (siehe Abschnitt 4.3). Die Befunde zeigen, dass Stotterer im Durchschnitt ihre Aufmerksamkeit weniger effektiv regulieren, dass sie weniger gut imstande sind, ihre Aufmerksamkeit auf zwei Aufgaben zugleich zu richten, die Aufmerksamkeit umzuschalten oder die Ausführung einer geplanten motorische Aktion zu unterdrücken. Eggers, De Nil und Van den Bergh (2012) schlussfolgerten, dass das Orientierungsnetzwerk, das für die Verteilung der Aufmerksamkeit wichtig ist, bei stotternden Kindern weniger effizient zu sein scheint, und Kaganovich, Hampton Wray u. Weber-Fox (2010) schlossen aus den Ergebnissen einer Untersuchung der auditiven Verarbeitung bei stotternden Vorschulkindern, dass Stottern mit einer weniger effizienten Aufmerksamkeitsverteilung verknüpft zu sein scheint.

Stotterer haben auch häufiger Aufmerksamkeitsstörungen: Die Verbreitung des Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitäts-Syndreoms (ADHS) beträgt unter Schulkindern insgesamt 3-6% je nach den diagnostischen Kriterien (Donaher, Healey u. Soffer, 2013). Angaben über die Verbreitung von ADHS unter stotternden Schulkindern reichen von 4% bis 26% (Healey und Reid, 2003; Alm, 2014). Conture (2001) meint, dass 10-20% aller stotternden Kinder ADHS haben dürften. Donaher und Richels (2012) stellten fest, dass 58% der von ihnen untersuchten stotternden Kinder und Jugendlichen Symptome zeigten, die eine Überweisung zu einem Spezialisten wegen einer möglichen ADHS-Diagnose rechtfertigen würden. Interessant ist, dass sowohl chronisches Stottern als auch ADHS häufiger bei Jungen bzw. Männern als bei Mädchen bzw. Frauen diagnostiziert wird (für ADHS siehe Ramtekkar et al., 2010). Das lässt vermuten, dass der Ursachenfaktor 1 – insbesondere durch die Komponenten Hyperaktivität und Impulsivität – für das häufigere Auftreten des chronischen Stotterns bei Männern verantwortlich ist.

Eine Grundannahme der vorliegenden Theorie ist ein Ungleichgewicht zwischen zwei Aspekten oder Komponenten der Verhaltenssteuerung, nämlich zwischen (1) innerlich initiierten zielgerichteten Aktionen, die vom Willen gesteuert werden, und die mit der selektiven (top-down) Aufmerksamkeit verbunden sind, und (2) von außen initiierten Re-Aktionen, die auf der sensorischen Wahrnehmung beruhen, einschließlich der sensorischen Rückmeldung, und die eher mit nicht-selektiver (bottom-up) Aufmerksamkeit verbunden sind. Ein Befund, der mit dieser Grundannahme gut vereinbar ist, ist eine höhere FA im frontalen Aslant-Trakt, einem Faserbündel, das das SMA und pre-SMA mit der Broca-Region verknüpft (Kronfeld-Duenias et al., 2016). Die FA-Werte in einigen Subregionen des frontalen Aslant-Trakts waren negativ mit der Sprechflüssigkeit korreliert. Da das SMA für die willentliche Steuerung des Verhaltens verantwortlich ist (nach dem Modell von Goldberg, 1995) können wir diesen Befund als Anzeichen eines übermäßigen Einflusses der willentlichen Steuerung auf die Sprachproduktion interpretieren. Ein weiterer Befund weist in dieselbe Richtung: Xuan et al. (2012) fanden bei erwachsenen Stotterern eine erhöhte Aktivierung im dorsolateralen präfrontalen Kortex, und sie vermuten, dass dies eine erhöhte Aufmerksamkeit auf die Aktion oder ein verstärktes Bemühen, mit dem Stottern zurechtzukommen widerspiegelt.

Kommen wir nun zu dem zweiten Ursachenfaktor, der beim chronischen Stottern eine Rolle zu spielen scheint: Viele empirische Befunde zeigen bei chronischen Stotterern Defizite in der Verarbeitung sprachlicher akustischer Stimuli (u.a. Beal et al., 2010, 2011; Chang et al., 2009; Maxfield et al., 2010, 2012; Neef et al., 2012; Tahaei et al., 2014) einschließlich der eigenen sprachlichen Hör-Rückmeldung (Cai et al., 2012, 2014; Loucks, Chon u. Han, 2012; Natke, Grosser u. Kalveram, 2001; Salmelin et al., 1998), aber auch bei der Verarbeitung nichtsprachlicher akustischer Stimuli (Arcuri, Schiefer u. Azevedo, 2017; Chang et al., 2009; Hampton u.Weber-Fox, 2009; Howell et al., 2000; Howell, Davis und Williams, 2006; Kikuchi et al., 2011, 2017: Saltuklaroglu et al., 2017; siehe auch Abschnitt 4.3).

Leider gibt es kaum Daten über Unterschiede zwischen chronisch Stotternden und Remittenten hinsichtlich der auditiven Verarbeitung. Die einzige mir bekannte Studie ist die von Howell, Davis und Williams (2006). Sie verglichen Kinder beider Gruppen in einem sogenannten Backward-Masking-Test, von dem angenommen wird, dass seine Ausführung die Qualität der zentral-auditiven Verarbeitung widerspiegelt. Dabei wurde eine ca. 10 Dezibel höhere Backward-Masking-Schwelle in der chronisch stotternden Gruppe festgestellt, d.h. für diese Kinder musste der Testton im Durchschnitt 10 Dezibel lauter sein, damit sie ihn vor dem danach einsetzenden Vertäubungs-Rauschen hören konnten. Der Gruppenunterschied war statistisch signifikant, doch die Variabilität in der Gruppe der chronisch stotternden Kinder war groß, daher vermuten die Autoren, dass eine auditive Verarbeitungsstörung wohl ein hinreichender, aber kein notwendiger Grund für das Bestehenbleiben des Stotterns ist.

In einer vorangegangenen Studie hatten Howell et al. (2000) eine höhere durchschnittliche Backward-Masking-Schwelle bei stotternden Kindern im Vergleich zu nicht stotternden festgestellt, und in der stotternden Gruppe war die Schwelle positiv mit der Stotterhäufigkeit korreliert, d.h. je schlechter die zentral-auditive Verarbeitung war, um so größer war die Stotterhäufigkeit. Ein Zusammenhang zwischen zentral-auditiver Verarbeitung und Stotterschwere oder -häufigkeit wurde auch in anderen Untersuchungen gefunden (Beal et al., 2010, 2011; Jansson-Verkasalo et al., 2014; Kikuchi et al., 2017; Liotti et al., 2010). Wenn die Stotterschwere bei Kindern (1) ein Prädiktor für die spätere Remission oder das Bestehenbleiben des Stotterns ist (wie es z.B. Howell u. Davis, 2011, aus ihren Daten geschlussfolgert haben), und wenn (2) eine Beziehung zwischen Stotterschwere und zentral-auditiver Verarbeitung besteht, dann können wir vermuten, dass auch die auditive Verarbeitung ein Prädiktor für Remission vs. Bestehenbleiben des Stotterns ist. Diese Hypothese ist vereinbar mit den oben beschriebenen Ergebnissen von Howell, Davis und Williams (2006) und könnte durch eine Langzeitstudie geprüft werden.

Es gibt einige weitere Befunde, die darauf hindeuten, dass die zentral-auditive Verarbeitung der Faktor ist, durch den sich vorübergehendes und chronisches Stottern unterscheiden: Usler und Weber-Fox (2015) sowie Mohan und Weber (2015) fanden Unterschiede zwischen chronisch stotternden Kindern und Remittenten bei der Verarbeitung akustisch präsentierter sprachlicher Stimuli. Chow und Chang (2017) fanden ein strukturelles Defizit (geringere FA) im Splenium, dem hinteren (posterioren) Teil des Corpus callosum, bei Kindern, deren Stottern sich später als chronisch erwies, aber nicht bei Kindern, deren Stottern später wieder verschwand (siehe Fig. 1, Cluster 4 in der Studie). Die betroffenen Nervenfasern des Spleniums verbinden vermutlich temporale Regionen beider Hirnhälften (Kuwazewa, 2013), und die verminderte FA könnte mit einer weniger effektiven Arbeitsteilung zwischen den Hirnhälften bei der auditiven Verarbeitung zu tun haben (die Fasern des Corpus callosum haben oft hemmende Funktion, sodass durch die Aktivität einer Hirnhälfte die entsprechende Region auf der anderen Hirnhälfte gehemmt wird).

Der genannte FA-Unterschied im Splenium ist bereits unter den jüngsten der untersuchten Kinder groß, und es gibt wenig Überlappung zwischen den FA-Werten der Kinder, deren Stottern sich später als chronisch erwies auf der einen Seite und denen der späteren Remittenten sowie der nicht stotternden Kontrollgruppe auf der anderen Seite. Daher kann es sich hier kaum um eine Folge des Stotterns handeln (während man das bei anderen strukturellen Abweichungen im Gehirn, die mit der Dauer des Stotterns größer werden, annehmen kann) – das strukturelle Defizit im Splenium scheint vielmehr mit der Ursache des chronischen Stotterns in Zusammenhang zu stehen. Chow, Liu, Bernstein Ratner und Braun fanden einen starken Zusammenhang zwischen verminderter FA im Splenium und Stotterschwere bei stotternden Erwachsenen (unveröffentlichte Studie; die Resultate wurden auf der ASHA-Tagung 2014 vorgestellt).

Die Vermutung, dass vorübergehendes und chronisches Stottern im Kern dieselbe Störung darstellen, und dass das chronische Stottern durch einen oder mehrere zusätzliche Faktoren verursacht wird, wurde bereits von Ambrose, Cox und Yairi (1997) geäußert, in einer Untersuchung der erblichen Grundlagen von chronischem und vorübergehendem Stottern. Sie schreiben: „Es wurde festgestellt, dass Remission oder Aufrechterhaltung des Stotterns zwar vererbt werden, und auch, dass die Remission keine genetisch mildere Form des Stotterns zu sein scheint; auch scheinen die beiden Typen des Stotterns keine genetisch verschiedenen Störungen zu sein. Die Daten sind am besten mit der Hypothese vereinbar, dass das chronische und das vorübergehende Stottern eine gemeinsame genetische Ätiologie besitzen, und dass das chronische Stottern z.T. auf zusätzlichen genetischen Faktoren beruht.“

 

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